Wozu sammeln?! Zur Neuverhandlung einer musealen Kernaufgabe

Wozu sammeln?! Zur Neuverhandlung einer musealen Kernaufgabe

Organisatoren
Strategieverbund „KulturWissen vernetzt“; Kommission für Sachkulturforschung; Museum der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft
Veranstaltungsort
Landesmuseum Württemberg
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
07.11.2022 - 08.11.2022
Von
Julia Tohidi Sardasht, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Albert Ludwigs Universität Freiburg; Antonia Schnell, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen

Die Frage „Wozu sammeln?“ streift aktuelle gesellschaftliche und museale Diskurse um die Neuverhandlung von Sammlungspraktiken und -konzepten. Insbesondere in postkolonialen und Nachhaltigkeitsdebatten hat sich die Relevanz dieser Thematik in den letzten Jahren gezeigt. Nach einer Begrüßung durch ASTRID PELLENGAHR (Stuttgart) erläuterte THOMAS THIEMEYER (Tübingen), dass die Frage „Wozu sammeln?!“ sowohl für die Universitäten als auch die anderen involvierten Institutionen mit ihren Archiven relevant sei und deswegen der Tagungstitel bewusst zweideutig gewählt wurde: Es stand sowohl zur Debatte, aus welchen Gründen gesammelt wird, als auch zu welchen Themen Museen sammeln.1

Im ersten Panel wurde diskutiert, wie sich gesellschaftliche und politische Diskurse in Sammlungen widerspiegeln und wie wissensgeschichtliche Analysen neue Reflexionsansätze für bestehende Sammlungen ermöglichen. LIOBA KELLER-DRESCHER (Münster) thematisierte in ihrem Vortrag Sammlungszeiten – also den zeitlichen Bezug von alltagskulturellen Sammlungen zu ihrer Gegenwart. Die historische Wissensanalyse, so Keller-Drescher, führe dabei zu einer forschungsgeleiteten Sicht auf das Sammeln. Sie stellte ihr „Sammelschool“-Projekt vor, das sie im Sommer 2021 im Freilichtmuseum Detmold mit Studierenden durchführte, um der Frage nachzugehen, was man in der Zukunft über die Zeit heute wissen möchte. Am Beispiel der Mehrfachsteckdose machte Keller-Drescher deutlich, dass banal erscheinende Dinge wie so eine Steckdose in der Zukunft sprechend für Wohn- und Bauweisen sowie für den Umgang mit Energie sein könnten.

Wie Naturkunde historisiert werden kann und ein kulturwissenschaftlicher Blick auf die Sammlungen koloniale Ursprünge aufdeckt, präsentierte INA HEUMANN (Berlin). Am Beispiel des Skeletts des Brachiosaurus brancai (Naturkundemuseum Berlin) als Produkt kolonialer Expeditionen und genozidaler Gewalt betrachtete sie Notizen der damaligen Expeditionsleiter, die deren Sammlungs- und Herrschaftsansprüche in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika, heute Tansania, deutlich machten. Diese zeigen auf, dass ein heutiger Umgang mit kolonialen Objekten sich immer zu der Geschichte des Sammelns positionieren muss, weswegen Heumann ‚Sammeln‘ in diesem Zusammenhang als Euphemismus bezeichnete und den Begriff dadurch kritisch infrage stellte.

MATTHIAS BEITL (Wien) illustrierte, wie sich Sammlungspraktiken im Volkskundemuseum in Wien gewandelt haben: vom Völkermuseum, das dem Austrofaschismus und der NS-Volkskunde diente, über das Österreichmuseum mit identitätsstiftender Volkskultur, zum Europamuseum, das Europa als Möglichkeit begreift. Beitl reflektierte, wie in seinem Haus das Museum heute als multimediale Plattform und Vernetzungsort gesehen werde, sodass Sammeln als Kommunikation, sowohl nach außen als auch nach innen verstanden wird. Nur intern gut kommunizierte Sammlungsinhalte würden auch nachvollziehbar für die Öffentlichkeit dargestellt werden können.

Das zweite Panel widmete sich den Fragen, wie heutige gesellschaftliche Diskurse produktiv in museales Sammeln integriert werden können – warum und wie im Kontext gesellschaftlicher Debatten um Nachhaltigkeit oder Demokratisierung gesammelt wird. HENRIETTA LIDCHI (Santa Fe) thematisierte die Felder Repräsentation und Erbe im Museum sowie Politik und Ethik des Sammelns. Sie appellierte an Museumsmitarbeiter:innen, sich koloniale Intentionen bewusst zu machen und zu reflektieren, wie diese sich heute noch zeigen. Da Sammeln zugleich bedeute, Präsenz zu zeigen, müsse diese auch geteilt werden. Kollaborative Zusammenarbeit sieht sie neben der Rückgabe von Objekten – was nicht die einzige Lösung sei – als zentral für postkoloniales Sammeln und Ausstellen an.

Wie wichtig Aspekte der Zugänglichkeit und Demokratisierung für Museen seien, betonte NATHALIE BAYER (Berlin) und ergänzte, dass dafür gängige Macht- und Besitzverhältnisse im Museum kritisch reflektiert und geöffnet werden müssen. Ein Beispiel dafür ist das Netzwerk-Projekt „Ver/sammeln antirassistischer Kämpfe“, dessen Zwischenergebnis ein offenes Archiv im FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum ist. Mithilfe von Community-Kurator:innen wurden Archivmaterialien zu antirassistischen Kämpfen gesammelt, die nach wie vor den Menschen gehören, die sie bereitgestellt haben. Wenn Museen als gesellschaftlicher Bestandteil gesehen werden, so Bayer, müssen Besitzverhältnisse neu verhandelt werden und Museen stärker in die Kommunikation mit der Gesellschaft treten. Das könne auch schmerzhaft sein, sei aber Voraussetzung für konsequent demokratische Verhältnisse.

JOACHIM BAUR (Dortmund) diskutierte drei Begriffe, die die Praxis des Sammelns tangieren: Akkumulation, Extraktion und Kompost. Sammlung als Akkumulation verbindet er mit der systematischen Ansammlung von Objekten, die dem Diktat des ständigen Wachstums untergeordnet sei. Dem stellt er die Idee eines Degrowth-Museums gegenüber. Extraktivismus beziehe sich auf eine nachhaltige Wirtschaftsform. Auf das Museum übertragen würden beim Sammeln Dinge aus ihrer Lebenswelt herausgenommen und in neue Zusammenhänge überführt. Sehr spannend, aber am offensten sind Baurs Überlegungen, von Sammlungen metaphorisch als Kompost zu sprechen, als etwas ständig Umzuwandelndes. Das erscheint produktiv, jedoch stecke in Kompost auch der Zerfall. Er führte seine Überlegungen in einem Plädoyer für ein „Slow Collecting“ mit Fokus auf dem Sichten von Sammlungen zusammen.

Die Plenardiskussion zwischen ASTRID PELLENGAHR (Stuttgart), NINA GORGUS (Frankfurt) und THOMAS THIEMEYER (Tübingen) widmete sich der Leitfrage der Tagung: „Wozu sammeln?!“ Der kulturwissenschaftliche Beitrag zu dieser Debatte sei die spezifische Perspektive auf Fragen von Macht und Sichtbarkeit. Museale Sammlungen wollen Sichtweisen auf die Welt widerspiegeln. Dabei sei jedoch immer zu fragen, welche Positionen (nicht) zum Tragen kämen. Generell sei für die Debatte am wichtigsten, offen und ehrlich über den Ist-Zustand von Museen und Sammlungen zu sprechen. Die Angst vor dem Verlust kolonialer Sammlungen, wenn sie aufgearbeitet würden, sei dabei nur ein Hindernis.

Auch für wen gesammelt werde, müsse kritisch reflektiert werden. Dabei wurden verschiedene Perspektiven und Ideen diskutiert: Leerstände und Lücken in Sammlungen sollen gefüllt, der Sammlungsprozess partizipativer und das Museum durch interaktive Sammlungsprojekte zu einem sozialen Ort werden. Ebenso zentral war die Frage nach der Zukunft, für die gesammelt werde. Konsens bestand darin, dass Museen immer für die Zukunft sammeln und sich dafür aus der Gegenwart heraus verschiedene Kriterien entwickeln, die die Relevanz von Objekten bestimmen. Ob ein Interimsdepot, das die Entscheidung über die endgültige Aufnahme eines Objekts in die Zukunft verlagert, eine gute Möglichkeit wäre, wurde kontrovers diskutiert und der Ewigkeitsanspruch an Sammlungen insgesamt infrage gestellt.

Im nächsten Panel führten ANNA JUNGMAYR (Wien), MARTINA NUßBAUMER (Wien), RAFFAELA SULZNER (Waldenbuch / Stuttgart) und JANA WITTENZELLNER (Berlin) ein Gespräch über die Sammelaufrufe ihrer Häuser zu Corona-Sammlungen als Beispiel für ein Gegenwartssammeln, welches die öffentlichen Aushandlungen eines Diskurses begleitet. In den Sammlungen sollten individuelle und kollektive Strategien zur Krisenbewältigung sowie eine sich verändernde materielle Kultur abgebildet werden. Als Rapid Response Sammlung dienten die Corona-Sammlungen somit zum einen als „Zeitkapsel“ dieser ephemeren Periode als auch als Methode, um mit dem Museumspublikum durch diesen partizipativen Ansatz in Zeiten von Museumsschließungen in Kontakt zu bleiben.

Probleme, mit denen sich die Museen dabei konfrontiert sahen, waren technischer bzw. infrastruktureller Natur. Dazu kamen rechtliche Fragen der Urheber:innenschaft und Personalmangel in den Museen, um die Fülle der Einsendungen zu bearbeiten. Die Referentinnen erzählten, dass es bei wenigen Sammlungen eine solch große mediale Aufmerksamkeit gegeben habe wie bei den Corona-Sammlungen. Das werfe jedoch die Frage auf, wie viel Beachtung Museen anderen Gegenwartsphänomenen schenken (können). Im Gespräch reflektierten die Referentinnen auch kritisch die Grenzen von Partizipation, denn die Sammlungsaufrufe erreichten nur eine relativ homogene Bevölkerungsschicht. Jede Sammlung müsse sich also immer ihren eigenen Ansprüchen nach Repräsentativität und Vollständigkeit bewusst sein.

Das letzte Panel, führte den Fokus weg von Fragen des Sammelns hin zu Fragen, wie mit bestehenden Beständen umgegangen werden kann und soll. BIRGIT JOHLER (Graz) stellte per Videoführung den neu kuratierten Trachtensaal des Joanneums vor – ein Beispiel für den Umgang mit einem als unbequem betrachteten Erbe. Das Ziel der Neueröffnung sei es, so Johler, die erstmalige Inszenierung von 1945 zu rekonstruieren. Insbesondere sollten dadurch die Intention und die Wissenspraktiken des damaligen Museumsleiters Viktor Geramb offengelegt werden. Geramb war ein leidenschaftlicher Trachtenbefürworter, der dieses Thema auch im Kontext des Austrofaschismus politisch vorantrieb. Dazu wurde die originale Reihenfolge der Trachtenfigurieren wiederhergestellt, kontextualisiert und in ihrer Aufstellung gelockert. Kleine Eingriffe sollen Bezüge zur Gegenwart herstellen und werden durch ein künstlerisches Wandbild und eine Videoinstallation gerahmt.

FRANK GNEGEL (Frankfurt am Main) zeigte auf, wie Sammlungen durch strategisches Entsammeln aktualisiert werden können. Das Museum der Kommunikation entstand 1995 nach Auflösung der Postmuseen. Die Sammlung an den Standorten Berlin und Frankfurt am Main bestehen aus zusammengeführten Einzelsammlungen. Gnegel führte aus, dass heute 20 bis 40 Prozent der Sammlung nicht mit dem aktuellen Sammlungskonzept zu rechtfertigen seien und bis 2029 deakzessioniert werden müssten. Um mit dem „Zuvielen“ umzugehen, wurden in Frankfurt am Main nach Vorbild des Significance Assessment operationalisierbare Sammlungskriterien entwickelt. Die dabei entstandene Deskriptorenmatrix solle Vergleichbarkeit und Transparenz beim Entsammeln herstellen.

Wie Lücken in Sammlungen geschlossen werden können, zeigte REBECCA ETTER (Bern) am Beispiel des Fundbüro für Erinnerungen. Dafür wurde ein freigewordener Depotraum zum Ausstellungsraum umfunktioniert und die Lücken der Sammlung ausgestellt, um die Sammlung zu zeigen, aber auch um Leerstellen zu füllen. Mittels eines partizipativen Konzepts konnten Menschen eigene Objekte einbringen und mit dem Museum entscheiden, was langfristig in die Sammlung aufgenommen werden soll. Dieses Vorgehen habe bewirkt, dass sich die daran beteiligten Menschen als Teil des Museums sehen, was Etter als Erfolg wertete.

Die Tagung bot viele Möglichkeiten für Diskussionen nach den Panels, die rege wahrgenommen wurden. Besonders kontrovers waren dabei Fragen um die Begrifflichkeit des Sammelns und ob wir gar von diesem Begriff Abschied nehmen müssen. Denn: Selbst wenn partizipative Ansätze den Anspruch haben, Deutungshoheit abzugeben, sind Alltagskultur, das museale Sammeln und Moderieren doch immer in Machtverhältnisse eingespannt. Vor allem in Anbetracht von Provenienzforschung und Objekten, die aus Unrechtskontexten ihren Eingang in Sammlungen gefunden haben, müssen Sammlungspraktiken reflektiert werden. Weitere Diskussionspunkte, die sich durch die Tagung gezogen haben, waren der Zusammenhang zwischen Sammlungs- und Ausstellungslogiken sowie zwischen Sammeln und Entsammeln. Auffällig war das Interesse der Teilnehmer*innen der Tagung nicht nur an Theorie, sondern auch an konkreten Hinweisen und Tipps für die alltägliche Museumspraxis in Bezug auf das (Ent-)Sammeln. Zur Frage, wie und wozu das Museum der Zukunft im Kontext von Nachhaltigkeit, Postkolonialität und Öffentlichkeitswirksamkeit sammeln wird, hat diese Tagung viele Anregungen gegeben.

Konferenzübersicht:

Sammlungen als politische Epistemologie

Lioba Keller-Drescher (Münster): Sammlungszeiten – von der Gegenwart der Vergangenheit zur Zukunft der Gegenwart

Ina Heumann (Berlin): Wozu wurde gesammelt? Politiken der Aneignung am Museum für Naturkunde Berlin

Matthias Beitl (Wien): Sammeln in der Bewegung

Sammeln im Postpositivismus

Nathalie Bayer (Berlin): Versammeln statt Anhäufen?! Macht- und Besitzverhältnisse rekonfiguieren

Henrietta Lidchi (Santa Fe): Collecting: accumulation or intervention?

Joachim Baur (Dortmund): Akkumulation, Extraktivismus, Kompost

Plenardiskussion: Wozu sammeln?!
Moderation: Markus Tauschek (Freiburg)

Astrid Pellengahr (Stuttgart) / Nina Gorgus (Frankfurt am Main) / Thomas Thiemeyer (Tübingen)

Gegenwart sammeln am Beispiel Coronakrise – Gespräch
Martina Nussbaumer (Wien) / Anna Jungmayr (Wien) / Raffaela Sulzner (Waldenbuch/Stuttgart) / Jana Wittenzellner (Berlin)

Neue Fragen an alte Bestände

Birgit Johler (Graz): Remodelling Trachtensaal – oder vom Umgang mit einem unbequemen musealen Erbe

Frank Gnegel (Frankfurt am Main): Muss das weg? Collection Assessment bei der Anpassung gewachsener Museumsbestände an neue Sammlungsstrategien

Rebecca Etter (Bern): Fundbüro für Erinnerungen: Neue Bezüge durch persönliche Begegnungen

Schlusswort

Anmerkung:
1 Im von der Volkswagenstiftung geförderten Strategieverbund kooperieren das Badische Landesmuseum und das Landesmuseum Württemberg, deren beide Landesstellen in Staufen und Stuttgart, sowie das Museum der Alltagskultur Schloss Waldenbuch, das Zentrum für Populäre Kultur und Musik und die Universitäten Tübingen und Freiburg mit dem Ziel, universitäre Forschung und Lehre stärker mit musealer Arbeit zu verbinden und Wissenstransfer in die Öffentlichkeit zu fördern. Siehe auch KulturWissen vernetzt. Kooperative Strukturen in kulturwissenschaftlicher Forschung, Lehre und Wissenstransfer, in: Forum Alltagskultur in Baden-Württemberg, https://www.alltagskultur.info/kulturwissen/ (12.12.2022).

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